Über das Greifen

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Der tibetanische Buddhismus erklärt, dass das Greifen eine Wurzel des Übels ist. Doch um zu verstehen, was damit gemeint ist, ist es wichtig, zu hinterfragen, was es mit diesem "Greifen" auf sich hat.




Amithaba


Verdichtung




Wenn wir inkarnieren; als Mensch in diese Welt geboren werden, haben wir wunderbare Werkzeuge bekommen, die es uns ermöglichen, hier aktiv zu sein. Das sind: der kausale Körper, der Verstandes- oder Denkkörper, der Emotionalkörper, der Energiekörper in seinen verschiedenen Schichten.

Des Weiteren haben wir, an diese Körper gebunden, unsere fünf Sinne; tasten, riechen, schmecken, hören und sehen. Wir verdichten zu Stofflichkeit. Wir vergessen, dass wir spirituelle Wesen sind. Spirituell, das bedeutet u.a., nicht greifbar zu sein; feinstofflich; nicht sichtbar, nicht kausal existent zu sein. Unsere fünf Sinne und unsere bewussten Körperschichten sind nicht primär auf Spiritualtät ausgelegt, sondern erst einmal dazu gedacht, ganz und gar in diese kausale Welt einzusteigen.

Wir beginnen als Kleinkind, diese Welt im wahrsten Sinne des Wortes zu be-greifen. Alles ist neu. Die Sinneswahrnehmungen prasseln auf uns ein. Langsam dämmert uns unsere Persönlichkeits-Identität und gleichzeitig nimmt das Vergessen seinen Platz ein über das, von wo wir wirklich herkommen und wir schlöpfen total ins Menschsein.



Der Anfang

Wir kommen hier in unserer Welt als Säugling an. Der kindliche Emotionalkörper ist komplett auf das Greifen ausgerichtet. Alles wollen wir berühren, anfassen, einverleiben. Das ist die Natur des frühen Emotionalkörpers. Er be-greift durch Greifen und der Denkkörper sortiert diese Erfahrung ein. Wohlige und unschöne Erlebnisse registriert der Emotionalkörper. Der Denkkörper liefert die jeweilige subjektive Bewertung und somit den Erfahrungswert. Es ist sogar so, dass Denkkörper und Emotionalkörper die erschaffenden Faktoren unserer erlebten Wirklichkeit sind.


Das Greifen jenes frühen emotionalen Zustands ist ohne Limit. Es geht einfach nur um das Greifen; soviel wie es geht und das dadurch entstehende Bedürfnis nach mehr. Bedürftigkeit ist eine Folge des Greifens. In der Agenda mit diesem grenzenlosen Greifen dient die Mutter, die in ihrer mütterlichen Liebe gibt. Sie gibt. Grenzenlos. So ist das Greifen grenzenlos und das Gebende ebenso. Die Mutter gibt ohne Grenzen. Das ist die Natur dieses Aspektes in all seinen Facetten. Wenn sich dann die Vaterenergie dazu gesellt, dann geschieht ein Eingriff in diese Symbiose von Nehmen und Geben. Die männliche Energie gebietet dem Greifen plötzlich Einhalt. Sie sagt "stop!". Das kindliche Greifen reagiert erst einmal mit Emotion, so als ob es etwas weggenommen bekommt, doch in Wahrheit zielt der männliche Aspekt, die männliche Energie, darauf ab, durch das Einhaltgebieten die Wertschätzung für das Bekommene zu wachzurufen. In dem Moment, wo das Greifen innehält, kann nun das gerade Gegriffene betrachtet werden, ohne sofort durch das Greifen nach dem Nächsten abgelenkt zu werden. Das ist überaus wichtig, denn wenn dem Greifen kein Einhalt geboten wird, mutiert es zu grenzenlosen Gier. Wertschätzung für etwas zu empfinden verändert den Bewusstseinszustand in Bezug auf das, was man bekommt. Empfinden wir Wertschätzung, dann empfinden wir auch Dankbarkeit; und dann irgendwann auch Dankbarkeit für die Quelle von dem, wo das herkam, was wir bekommen haben. Und wir lernen dann, zu teilen und ebenso zu geben.


Der Emotionalkörper

Entwickelt sich unser Emotionalkörper weiter, werden wir aufhören, jede Blume herauszureissen, nur weil sie so schön bunt ist und wir lernen, ihre wahre Schönheit zu betrachten, ihre wahre Natur; indem wir sie stehen lassen, ohne sie haben zu wollen; ohne danach zu Greifen. Die wahre Natur eines Aspekts besteht immer in der Unberührtheit und in der Nicht-Bewertung. Die Dinge sind wie sie sind, doch wie wir sie ansehen, wie sie für uns ausschauen, wenn wir sie bewerten und mit Emotion belegen, dann sehen wir nicht unbedingt die Dinge wie sie sind, jedoch unsere Interpretation davon und schon können wir die wahre Natur nicht mehr erkennen. Das Greifen fängt schon im Intellektuellen an, durch unser Werturteil und was wir von den Dingen halten. Ein halb mit Wasser gefülltes Glas ist ein halb mit Wasser gefülltes Glas. Das ist seine Natur. Ob wir das Glas als halb voll oder halb leer betrachten, das ist unsere Interpretation davon.


Das Greifen - eine Wurzel des Übels?

Am Beispiel mit der Blume sehen wir: das Herausreissen ist Zerstörung, Leid. Es verwandelt die Blume, sie wird durch diesen Akt schnell vergehen. Sicher, sie würde auch in ihrem eigenen Prozess vergehen, aber das ist etwas Anderes, denn es ist in ihrer Natur, zu wachsen und zu vergehen, in ihrer eigenen Zeit. Sie kommt, gibt sich dem Prozess hin und greift nicht nach dem Verbleiben in ihrer momentanen Schönheit. Viele Aspekte verwandeln sich in ihre wahre Natur, wenn man sie Greifen befreit.


Die Weisheit der Unterscheidung

Die Begierde, so heisst es im tibetanischen Buddhismus; wenn man sie vom Greifen befreit, wird zur Weisheit der Unterscheidung. Das heisst, umso mehr wir im Greifen verstrickt sind, desto mehr sind wir von der Unterscheidungsfähigkeit getrennt. Wir sind dann in der Lage, allen möglichen Unsinn zu machen und der Denkkörper, im tibetanischen Buddhismus "Sem" genannt, liefert uns stoisch für jedes Erdenkliche, was wir gerade tun, die jeweilige Rechtfertigung und Interpretation, warum wir es machen, auch wenn ein anderer Teil von uns spürt, dass dies unter Umständen grösster Unfug sein könnte.


Wir sind ja unter anderem aus dem Grund hier, das wir das Nehmen und Geben erfahren können. Vom Greifen differenziert sich der Aspekt des Annehmens und Empfangens. Während das Greifen masslos und ohne Wertschätzung stattfindet, so geschieht das Annehmen im Rahmen von Respekt und Achtsamkeit. Aber auch das Annehmen kann "unglücklich verrutschen"; wenn man z.B. Schwierigkeiten damit hat, etwas annehmen zu können.


Das Greifen




Begierde und Gier

Begierde, Gier und Festhalten sind Formen des Greifens. Begierde ist das Haben-wollen, Gier das Mehr-haben-wollen und Festhalten das Nicht-Loslassen. Zum Festhalten sei gesagt, dass es einerseits in uns um den aus der Wertschätzung heraus geborenen Erhaltungswillen gibt; andererseits aber auch das Wissen, dass wir alles irgendwann wieder loslassen müssen, denn die Welt, in der wir leben ist eine Welt der Vergänglichkeit. Spätestens wenn wir sterben, werden wir nichts aus dieser Welt auf unseren weiteren Weg mitnehmen können. Der Wille, etwas zu bewahren, zu warten und zu erhalten hat, wie gesagt, mit Wertschätzung in Bezug auf das zu Erhaltende zu tun. Das ist völlig in Ordnung, denn Wertschätzung ist etwas, das wir lernen können, wenn wir etwas bekommen und es in unserer Obhut ist, bis der Zeitpunkt gekommen ist, wo wir jenes wieder gehenlassen müssen; loslassen. Doch alles, was wir krampfhaft festhalten wollen, wird in unseren Fingern zerinnen wie feiner Sand.


Wertschätzung

Das ist ein wichtiger Punkt. Es beginnt, wie schon weiter oben beschrieben, beim Kind. Ein Kind kann Wertschätzung für jenes erlernen, was es bekommt; vorausgesetzt, man bringt es ihm bei. Wo Wertschätzung fehlt, nimmt die Geringschätzung automatisch den Raum ein. Gier und Geringschätzung ziehen an einem Strang. Was nicht mehr be-giert wird, kaputt geht, unbrauchbar wird; wird weggeworfen; egal, wieviel es vorher gekostet haben mag. Gegenstände und Gebrauchsartikel werden schon von vorn herein geringwertig hergestellt, damit sie schneller kaputt gehen, reparatur-unrentabel sind und somit mehr gekauft davon werden muss. Nehmen-Benutzen-Wegwerfen ... kommt das nicht bekannt vor? Gier kennt keine Grenzen. Doch letztendlich bringen uns die Erfahrungen, wenn wir uns darüber bewusst werden, auf den Weg, der uns vom kindlichen Greifen in das reife Geben und Nehmen führt.


Wenn wir uns aus jenen Gesichtspunkten die heutige "zivilisierte" Gesellschaft betrachten; ihre Früchte der Zerstörung, der Unachtsamkeit, der Geringsschätzung; den gnadenlosen Raubbau an der Erde und auch der Umgang der Menschen untereinander; so kann nun jeder seine eigenen Beobachtungen machen und seine Schlüsse ziehen, in welchen Stadium sich diese Zivilisation befindet; ihre Natur erkennt und entscheiden, was er nun als persönliche Erfahrung zum Ausdruck bringen möchte.




Text von Christian Malzahn




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